Mann rauft Haare

Warum bleiben die Türen dicht?

Es ist ärgerlich, wenn man nur einen Wimpernschlag zu spät auf den Bahnsteig kommt, die Türen des Zuges aber dennoch geschlossen bleiben. Ist das böse Absicht?

Warum unsere Lokführerinnen und Lokführer die Türen für verspätete Fahrgäste meistens nicht noch einmal öffnen und warum keine Boshaftigkeit dahinter steckt, erklärt Dir Gordon. Er fährt seit 2014 unsere Züge zwischen Itzehoe/Wrist und Hamburg und weiß, was unsere Fahrgäste beschäftigt.

Hallo liebe nordbahn-Fahrgäste!
Das kennen wir doch alle: Morgens ist manchmal der Wurm drin. Die Kinder trödeln, der Hund will sein Geschäft partout nicht verrichten und auf dem Weg zum Bahnhof haben sich sämtliche Ampeln gegen einen verschworen. Auf den allerletzten Drücker kommt man an, rennt zum Zug und in dem Moment, in dem man auf den Türöffner drücken will, fährt der Zug an. Hand aufs Herz: Sie haben meine Kolleginnen und Kollegen und mich dafür doch auch schon mal innerlich verflucht, oder? Und sich gedacht: „Gemeinheit, der muss mich doch gesehen haben!"
Unsere Züge im Netz Mitte – die FLIRT 3-Elektrotriebwagen – haben vorne und hinten Außenkameras. Bei freigegebenen Türen sowie während der Abfahrt können wir den gesamten Zug auf einem Monitor bei uns im Führerstand überwachen. Dies dient der Sicherheit, und wir achten zum Beispiel darauf, dass niemand in den Türen eingeklemmt ist, bevor wir anfahren. Und klar, wir sehen auch die Unglücklichen, die nicht mehr mitkommen. Warum aber geben wir die Türen dann nicht noch einmal frei?

Pünktlichkeit zählt
Wir fahren in der Metropolregion Hamburg auf hochbelasteten Strecken, auf denen sehr viele Züge in sehr kurzen Abständen hintereinander folgen. Oftmals haben wir Verspätung, weil vor uns ein anderer Zug bummelt und uns ausbremst – und darüber ärgern Sie sich genauso wie ich. Nun bitte ich Sie, mit mir gemeinsam einmal die Perspektive zu wechseln und einen anderen Blickwinkel einzunehmen: Stellen Sie sich vor, dass hinter uns weitere Züge fahren. Mit Fahrgästen, die sich ihrerseits ärgern, weil sie ausgebremst werden. Und dass wir es sind, die diese Verspätung auslösen und so andere aufhalten.
Deswegen versuchen wir Lokführerinnen und Lokführer, jede noch so kleine Verspätung aufzuholen bzw. zumindest dafür zu sorgen, dass sich nicht noch weitere Verzögerungen ergeben. Dazu gehört es auch, so pünktlich wie möglich abzufahren. Denn eine erneute Türfreigabe kostet mehr Zeit, als Sie womöglich denken. Nachdem wir per Knopfdruck die Türen freigegeben haben, fährt zunächst die Spaltüberbrückung (die Trittstufe zwischen Zug und Bahnsteig) aus. Dann erst kann die Tür durch Fahrgäste geöffnet werden. Nachdem diese eingestiegen sind, dauert es aus Sicherheitsgründen einige Sekunden, bis die Tür wieder schließt. Danach fährt die Spaltüberbrückung wieder ein. Weitere Sekunden vergehen, bis die Überwachungselektronik des Zuges sicher erkannt hat, dass alle Türen fest verschlossen sind, und auch wir müssen auf dem Monitor gewissenhaft prüfen, ob alles in Ordnung ist. Erst danach ist es für uns im Cockpit möglich, Leistung aufzuschalten, also anzufahren, und es dauert weitere Sekunden, bis sich der Zug in Bewegung setzt.

Die Kettenreaktion
Können Sie sich vorstellen, wie oft es vorkommt, dass Fahrgäste noch dieses eine Sekündchen zu spät einsteigen wollen? Es geschieht bei nahezu jeder Fahrt und nicht nur an einer Station. Und dann gibt es noch eine Tücke, wenn wir Türen erneut freigeben: die Kettenreaktion. Der Fahrgast, für den wir nochmals aufgemacht haben, steigt ein. Bis die Tür zugeht, schafft es noch einer – die Tür geht erneut auf und braucht wieder ein paar Sekunden bis zum Schließen. In der Zeit kommt – Sie ahnen es! – der nächste Passagier herbeigesprintet. Und es gibt viele Menschen, die es gut meinen und Türen blockieren, damit Herbeilaufende noch einsteigen können. Vermutlich denken Sie: „Na, nun erzählt er aber Seemannsgarn!" Aber tatsächlich ist das vor allem in den extrem stark frequentierten Bahnhöfen, wie Hamburg Hbf, Dammtor und Altona, aber auch in Pinneberg und Elmshorn, die Regel und nicht die Ausnahme. Und gerade das Blockieren der Türen kostet alle Fahrgäste sehr viel Zeit.
Darum geben wir zumeist Türen nicht noch einmal frei, wenn die Abfahrtszeit erreicht ist. Wir als Lokführer müssen bei unseren Entscheidungen die Auswirkungen auf alle anderen Kunden im Zug, aber auch auf die in den Zügen hinter uns berücksichtigen. Häme, Boshaftigkeit oder Schadenfreude leitet uns dabei nicht an. Und sehen Sie es so: Heute ärgern Sie sich über uns, weil wir ausgerechnet Sie haben stehen lassen. Aber morgen früh erreichen Sie Ihre nordbahn wieder ganz entspannt, nehmen Platz – und fragen sich, warum der Zug nicht endlich abfährt.


Ihnen eine gute Fahrt und bis zum nächsten Mal!
Ihr Lokführer Gordon